Buchbesprechungen

Richard H. Wilkinson: The Complete Temples of Ancient Egypt. London, 2000. Thames & Hudson.

ISBN 3-8030-3087-0 (Katalogausgabe;) 3-8030-3084-6 (Buchhandelsausgabe)

In der Reihe "The Complete" ist dieses Buch nach Mark Lehners "Pyramiden", Nicholas Reeves "Tutankhamun" und Reeves & Wilkinsons "Valley of the Kings" der vierte Band. Mein bisheriges Verhältnis zu dieser Reihe ist sehr zwiespältig. Einerseits ist die graphische Aufarbeitung dieser Bände immens gelungen, andererseits ist der Gehalt an Informationen darin in nicht unwesentlichen Teilen ebenso immens schlecht. Lehners Pyramidenbuch hat eine hervorragende Einleitung und ein hervorragendes Schlußkapitel, der Katalog selbst ist keine Erwähnung wert. Viele bunte Bilder ersetzen keine wesentlichen Informationen. Besser war Reeves & Wilkinsons "Valley of the Kings", das in seiner Art bis dahin neu war und dem Leser tatsächlich ein Bild der Gräber vermitteln konnte. Die Spannung, was das jüngste Kind dieser Reihe zu leisten vermag, war also groß.

Diesmal hatte ich mich entschlossen, das Drama der deutschen Übersetzungen zu übergehen und gleich die englische Originalausgabe zu bestellen. Das Original ist teurer als die sicher zu erwartende deutsche Übersetzung - jedenfalls trifft das auf die bisherigen deutschen Übersetzungen zu. Ansonsten handelt es sich - von der Sprache abgesehen - um absolut identische Bücher.

Der Aufbau von "The Complete Temples" entspricht seinen Vorgängern. Bis Seite 99 führt Wilkinson den Leser in alle Aspekte des Tempels ein. Von Seite 100 bis 239 stellt er alle Tempel Ägyptens in einem Katalog vor. Von Seite 240 bis 243 beendet ein Epilog über Erforschung und Konservierungen das Werk. Es folgen ein paar nützliche Hinweise für Besucher, eine weiterführende Literatur und ein Index.

Daß 140 Seiten für die Beschreibung aller ägyptischen Tempel von Haus aus nicht reichen können, werde ich eigentlich nicht gesondert erwähnen müssen. Genauso wie bei Lehner 130 Seiten für keine Beschreibung aller ägyptischen Pyramiden ausreichen konnten. In beiden Fällen ist eine Seite auch nur eine halbe Seite, weil die aufwendigen Grafiken und Bilder die Hälfte des Platzes bereits für sich vereinnahmt haben. Anders bei "Valley of the Kings". Reeves & Wilkinson beschränken ihre Besprechung allein auf die Gräber im Tal der Könige, und dafür reicht der Platz allemal aus. Die dazugehörigen Totentempel verbleiben unserem Buch über die Tempel. Doch damit nicht genug: in den ohnehin schon nicht ausreichenden Platz packt Wilkinson auch noch die Pyramidentempel, die Lehner in seinem Band schon besprochen hatte. Das ist einerseits sehr lobenswert, weil diese Tempel freilich die Vorgänger der späteren Tempel sind, und genau in diesen Zusammenhang gehören. Doch gleichzeitg wirkt das Alte Reich wie abgeschnitten, wenn die Pyramidentempel besprochen werden, die Pyramiden aber nicht! Denn genauso, wie die Pyramidentempel zu den Tempeln zählen, sind sie untrennbar mit den Pyramiden verbunden und geben ihnen eigentlich erst ihren Sinn! Und so sind die Inhalte der genannten Bücher primär ein riesengroßes Durcheinander. Wenn man Alexander Badawys "A History of Egyptian Architecture" daneben hält, sollte man 40 Jahre nach dessen Erscheinen eigentlich meinen, daß der damals vorgelegte Standard wenigsten eingehalten werden kann.

Vor einem ähnlichen Problem stand schon Dieter Arnold mit seinem Buch "Die Tempel Ägyptens". Eine wunderbare Einführung in das Verständnis des ägyptischen Tempels weicht einem Katalog, der nicht vollständig sein konnte. Allerdings erhebt er im Gegensatz zu Wilkinson nicht den Anspruch "Complete"! Man muß es Wilkinson zugute halten, daß er rettet, was zu retten ist. Da ist beispielsweise der Tempel der Königin Hatschepsut in Deir el-Bahari. Mit unendlicher Geduld packt er die wesentlichen Informationen über dieses baugeschichtlich bedeutsame Werk so zusammen, daß er nur knapp mehr als eine Seite Text dazu benötigt. Das ist rekordverdächtig. Gut hingegen kommt der Tempel von Karnak weg. Auf fast 11 Seiten (mit Abbildungen) gelingt ihm eine recht runde Darstellung des größten Tempels der Welt.

Es ist mir nicht verständlich, daß man den Bänden, besonders diesem und dem Pyramidenbuch von Lehner, nicht einfach 100 Seiten mehr zugestanden hat. Das Buch hätte dann lediglich 350 Seiten. Das ist also weiß Gott nicht unrealistisch, sondern viel eher völlig normal. Aber die Kataloge hätten sich angenehm ausbreiten können. Meiner Ansicht kranken alle Bände an vom Verlag vorgegebenen Verkaufs-Parametern, die der Pracht dienen, aber die sich nicht um den Inhalt scheren. Aus dieser Perspektive heraus hat Wilkinson sicher alles herausgeholt.

Obwohl der Katalog also ganz nützlich, aber kein Glanzstück ist, hat dieses Buch auch seine ganz starken Seiten. Und das sind - ähnlich schon wie bei Lehner - die ersten 100 Seiten, in denen Wilkinson seinen Leser in die Funktionsweise und Bedeutung des Tempels einführt. Er führt seinen Leser durch alle Aspekte. Vom Ursprung des Tempels und den ersten Tempeln an gelingt ihm eine Entwicklungsgeschichte, die so bisher nirgendwo zu finden ist. Eine kurze Geschichte der Erforschung der Tempel folgt eine gelungene Erklärung der Ortswahl und der Orientierung. Er handelt über die Gründungsriten, die Methoden der Erbauung und Vermessung sowie über die Reliefs und die Grundlagen der Dekoration. Auch Themen wie die Usurpation von Tempeln, ihre wirtschaftliche Verwaltung gehören zu dieser Besprechung. Im folgenden Kapitel werden die religiösen Grundlagen der Tempel besprochen, und zwar anhand jedes einzelnen Bestandteils - vom Obelisken, über den Pylon, die Höfe, die Säulenhalle, etc. praktisch jedes Detail wird - ausführlich! - erläutert. Ebenso gelungen ist die Besprechung der Symbolik des Tempels, ein Thema, das ohnehin zu den Spezialitäten des Autors gehört. Götter, Kulte, Feste, die Rolle des Königs im Tempel, die täglichen Rituale, die Priesterschaft, all das und mehr bespricht Wilkinson meisterhaft auf den ersten 100 Seiten dieses Buches, das damit nun doch endlich seinen Wert erhält. Auf diesem Sektor macht ihm niemand etwas vor, und auch Arnolds Einführung in den Tempel Ägyptens - die eine sehr gute ist! - kann sich mit dieser hier nicht ganz messen.

Diese 100 Seiten sind so gut, daß ich trotz allem den Kauf dieses Buches empfehlen möchte. 83,-DM derzeit für die englische Ausgabe sind verhältnismäßig viel. Mit 256 Seiten, die überwiegend durch s/w-Abbildungen gefüllt werden, ist das nicht erklärt, nicht bei der zu erwartenden Auflage. Es handelt sich definitiv um ein Buch, das für das breite Publikum angelegt wurde. Die Zahl der Illustrationen ist mit 535 angegeben, davon 173 in Farbe. (Für Richard H. Wilkinson vgl. oben "Symbol and Magic in Egyptian Art")

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